Die Kleine Wolke Helga

Die Kleine Wolke Helga

Helga war klein. Klein, etwas rundlich und schön. Aber vor allem klein. Deswegen wurde sie von allen "Klein Helga" genannt. Sie hatte einen großen, runden Kopf. Der war strahlend weiß. Er blendete so richtig im Sonnenlicht. Von unten war Helga auch weiß. Nicht so hell, aber weiß. Helga war eine kleine Wolke. Eine Sommerwolke.

Ihr kleines Wolkenleben begann an einem schönen Sommertag. Es war ein herrlicher Tag, mit strahlend blauem Himmel. Tief und blau! Ein Himmel, der die endlose Weite des Alls vermuten ließ. Und es war warm an jenem Tag. Klein Helga wurde am Mittag dieses Tages aus einem kleinen Dunstfleck geboren. Und so stand sie da am Himmel und blickte vergnügt auf die Erde und sah dem bunten Treiben dort zu.

Alles Leben schien sich zu freuen über den schönen warmen Tag. Die Pflanzen und Tiere und die Menschen. Eine mächtige Linde auf der Kuppe eines runden Hügels rauschte im Wind, eine kleine Waldquelle auf einer Lichtung plätscherte leise vor sich hin und ihr Wasser glitzerte auf den moosbewachsenen Steinen ringsherum. Die halbreifen Ähren auf dem Feld wiegten sich sachte. Ein kleines Kitz drehte hüpfende Kreise um seine Mutter, die gerade ausgiebig saftiges Gras rupfte. Die Kühe auf der Weide lagen in der Sonne und dösten vor sich hin. Und überall waren Menschen, die durch den Wald spazierten, am Strand eines kleinen Baggersees lagen oder darinnen schwammen und mit kleinen Booten darauf herum paddelten. Ein Mann in seinem Garten, der gerade die Fenster seines Hauses putzen wollte, hängte nur lachend den Putzlappen auf die Leine und legte sich in seine Hängematte. Kinder spielten Fußball und Federball. Hinter einem Wald, auf einer großen Wiese neben einem kleinen Fluss, war ein Zeltlager, wo viele Kinder ein Geländespiel spielten, badeten und bastelten. Und Klein Helga konnte aus der großen Höhe, in der sie lebte alles genau beobachten.

Da entdeckte klein Helga ihren eigenen Schatten auf der Erde. Er lag gerade auf einer Wiese. Da fiel ihr ein Spiel ein. Sie suchte eine Gruppe Fahrradfahrer und versuchte diesem mit ihrem Schatten einzufangen. Und die Radlfahrerinnen und Radlfahrer schienen auf dieses Spiel einzugehen. Klein Helga beeilte sich, hinter den bunt angezogenen Frauen und Männern herzukommen und die radelten, immer und immer schneller. Mal um die eine Kurve, mal um eine andere. Hin und her ging es und Klein Helga lachte und freute sich, dass ihr Nebelfetzen vom Kopf ab standen. Schließlich waren die Radler müde. Sie fuhren nur mehr langsam. Weil sie so schwitzten, versuchten sie nun im Schatten von Klein Helga zu bleiben, da es dort etwas kühler war. Klein Helga merkte dies und aus Dankbarkeit für die Freunde, die sie gefunden hatte, sorgte sie dafür, dass die Radler immer in der Mitte ihres Schattens blieben. Sie machte sich so dick wie möglich, damit ihr Schatten möglichst kühl war.

"Mein Kind!"

"Huch", erschrak Klein Helga. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sich ihr Vater genähert hatte. Der hatte ihr die ganze Zeit zugesehen.

"Mein Kind, es wird jetzt Zeit, dass Du mit dem Spielen aufhörst und anfängst zu wachsen!"

Klein Helgas Vater war eine große Wolke, mächtig aufgetürmt, mit einem riesigen Haupt. An seiner Unterseite war er dunkelgrau. Von unten gesehen musste er bedrohlich wirken.


"Aber warum soll ich denn wachsen?" fragte Klein Helga verständnislos, da sie sich so, wie sie war, ganz prima fand.

"Damit Du einmal so groß und stark wirst, wie ich, oder so weit ausgedehnt und mächtig, wie Deine Mutter!" erklärte ihr Vater.

"Aber, dann bin ich doch zu groß für einen so schönen Tag!"

"Eine Sommerwolke muss wachsen, grau werden und am Ende eines Tages muss sie Regenschauer auf die Erde gießen!" belehrte sie ihr Vater.

"Nein, ich will aber nicht so eine Wolke sein! Die Menschen und Tiere freuen sich so über den tollen Tag. Den will ich ihnen nicht kaputt machen, das wäre gemein!" rief Klein Helga empört.

"Mein Kind! Es ist Deine Pflicht, Dir wird gar nichts anderes übrig bleiben. Also tu', was ich Dir gesagt habe! Wenn ich wiederkomme, bist Du gewachsen!" befahl ihr Vater und zog weiter, hinter die nächsten Berge, wo er ein wenig für den Abend übte und Regenschauer produzierte. Klein Helga war stur. Nein, sie wollte den Erdbewohnern unter ihr nichts Böses tun. Und sie blieb klein. Sie war richtig wütend auf ihren Vater, der von ihr verlangte, zu regnen. Alles würde nass werden. Wie gemein! Die Tiere müssten in ihre Höhlen und Nester und die Menschen in ihre Häuser flüchten. Wer es nicht rechtzeitig schaffte, nach Hause zu kommen, der würde nass werden. Und was würden die armen Kinder in dem Zeltlager machen?

Regen? Nein! Nicht mit ihr! So etwas fieses! Klein Helga verstand überhaupt nicht, warum Wolken überhaupt regneten.

Sie spielte ein wenig mit einem Hasen auf einer Wiese, sah einem Schwarm Bienen zu, die gerade ein neues Zuhause suchten und beschattete ein Fußballfeld, auf dem gerade gespielt wurde. Die Spieler in ihren bunten Trikots freuten sich über Klein Helgas Schatten.

"Eine Wolke kann auch Freude machen," dachte sie sich. "Sie darf nur nicht regnen!"

Sie war so versunken in die Betrachtung des Spieles, dass Sie nicht bemerkte, wie die Zeit verging.

"Helga!! Was habe ich Dir gesagt?!"

Oh Schreck! Klein Helga fuhr zusammen. Ihr Vater war zurückgekommen. Er sah wütend aus und das war er auch. "Warum gehorchst Du nicht? Ich habe Dir gesagt, du sollst wachsen! Also tu das auch! Eine Sommerwolke muss wachsen!"

Er war noch viel größer als vorhin. Und er schwoll zusehends an. Beim Anblick seiner kleinen Tochter, die anscheinend niemals etwas werden wollte, wurde er schwarz vor Zorn.

Klein Helga nahm ihren ganzen Mut zusammen und widersprach ihrem Vater: "Nein, ich will nicht wachsen. Ich will nicht böse sein und regnen! Ich will, dass mich die Lebewesen auf der Erde mögen. Ich will nicht wachsen!"

"Was höre ich da? Du willst nicht?! Du musst!! Jede Wolke wächst! Und Du auch. Ich möchte nicht, dass Du zum Gespött aller Wolken wirst und mit Dir auch Deine Mutter und Dein Vater! Also los!"

"Nein, ich will nicht!"

"Du musst!" Ihr Vater tobte vor Wut. Er war außer sich.

"Ich will nicht! Ich bin nicht so böse und gemein wie Du und Mutter! Ich will nicht so sein, wie ihr!" Klein Helga war äußerst verzweifelt.

Ihr Vater wütete nun los: "Es reicht! Ich lasse mich von Dir nicht böse nennen. Verschwinde von hier. Ich will Dich nicht mehr sehen. Nie mehr! Weg aus diesem Land!"

Wilde, grelle Blitze durchzuckten klein Helgas Vater. Er war inzwischen dunkelgelb geworden und spie wütend tausende Hagelkörner aus. Helga sah entsetzt, wie die Hagelkörner ein schönes Blumenfeld zerschlugen. Viele Menschen flüchteten aus einem Biergarten, in dem sie bis eben noch gemütlich gesessen hatten.

Dann packte sie ein kräftiger Wind, den ihr Vater ausstieß. Sie wurde durch die Luft geschleudert. Schneller und schneller. Weiter, immer weiter trieb der Wind sie fort. Fort aus dem Land, über dem sie geboren wurde. Hinweg über ein großes Gebirge und über weite Länder.

Nur langsam wurde der Wind schwächer. Als er aufhörte zu blasen, stoppte endlich der rasante Flug. Klein Helga wusste gar nicht, wie ihr geschehen war.

Sie fühlte sich nach der wilden Fahrt zerrissen und zerrupft. Ihr standen überall die Wolkenfetzen ab. Sie atmete erst einmal tief durch und versuchte sich etwas aufzublähen, um sich wieder zu glätten. Sie war noch ganz benommen.

Langsam kam sie zu sich. Erschöpft holte sie noch ein paar mal tief Luft. Doch was war das? Die Luft, die sie atmete war heiß und trocken. Klein Helga bekam sofort einen ganz trockenen Hals.

"Was ist das für eine Luft?" rief sie erstaunt.

Sie sah unter sich. Was sie da erblickte entsetzte sie zutiefst. Unter ihr war nichts als gelber Sand. Ein paar große, braune Felsbrocken, ein paar kleine Steine. Dort ein verdorrter Ast, hier eine trockene Rinne im Sand. Das sah aus, wie ein ausgetrockneter Fluss! Etwas weiter, dort, wo ein paar große Felsen im Sand lagen, entdeckte Klein Helga ein paar Strohhütten. Die waren gar nicht so schön, wie die Häuser, die sie aus ihrer Heimat kannte. Vor diesen Hütten saßen einige wenige Menschen. Doch wie sahen die aus? Sie hatten aschgraue Gesichter und trugen nur ein paar graue Fetzen am Leib, nicht so bunte Kleider, wie Klein Helga sie kannte. Und die Menschen waren knochendürr. Sie wirkten ausgemergelt. Fliegen schwirrten um sie herum, aber die Menschen schienen sich nicht gegen sie wehren zu können. Was waren das für arme Menschen. Eine Mutter hielt sitzend ihr kleines Baby, welches leise wimmernd in den Armen seiner Mutter lag. Eine dürre, graue Ziege lag halbtot neben einer der Hütten. Und nirgends war etwas Grünes zu sehen, nirgends etwas zu essen für diese Menschen. Nur Sand und kahle Steine. Und ringsherum war keine weitere Wolke außer Klein Helga zu entdecken.

"Wo bin ich nur hingeraten? Was ist das für ein Land?"

Klein Helga fühlte sich elend und einsam. Die Sonne brannte erbarmungslos auf die Erde und auf klein Helga nieder.

"Wo bin ich ? Ich will nach Hause! Zurück in mein Land, zurück zu meinen Eltern Ich will heim!" Klein Helga begann zu weinen. Zuerst nur ein wenig, ganz leise, dann jedoch immer heftiger. Schließlich schluchzte sie laut und viele, dicke Tränen liefen ihr über die Backen, fielen von ihr herunter, zerplatzten in der Luft und fielen als Regen zu Boden. Immer heftiger weinte klein Helga. Und sie vergoss dabei so viele Tränen, dass sie immer kleiner und noch kleiner wurde.

Vor lauter Weinen bemerkte sie nicht, dass ihr sich eine sehr dünne Wolke nähert, die aus lauter einzelnen, wabenförmigen Nebelballen zu bestehen schien.

"Warum weinst Du, mein Kind?" fragte die merkwürdige Wolke.

Klein Helga sah auf und hörte auf zu weinen. Verwundert schaute sie die seltsame Wolke vor ihr an. Wo war sie auf einmal her gekommen?

"Ich heiße Esmira," sprach die seltsame Wolke weiter. "Und wer bist Du?"

"Ich heiße Helga. Die Kleine Helga!"

"Hallo Helga. Wie kommst Du denn her? Du kommst nicht von hier, dass sehe ich Dir an. Du musst von jenseits der Berge kommen!? Ist es nicht so? Und warum weinst Du?"

Was für eine kluge Wolke das doch war, dachte klein Helga. Sie war erstaunt und fragte sich, woher Esmira wohl wusste, wo sie her gekommen war.

"Mein Vater hat mich verstoßen und mich hier her geschickt, weil ich nicht wachsen wollte!" antwortete sie zögerlich.

"Du wolltest nicht wachsen?"

"Nein, ich wollte nicht wachsen. Ich will es auch jetzt nicht!"

"Warum denn nicht?"

"Wolken, die wachsen, die regnen auch." Klein Helgas stimme wurde fester. Esmira wirkte verständnisvoll und würde sie hoffentlich verstehen. "Und wenn Wolken regnen, dann ist das gemein!"

"Warum ist das denn gemein?" Esmira sah Klein Helga erstaunt an.

"Wenn es regnet, wird alles nass. Alle Blumen und Bäume, alle Tiere und alle Menschen..." Klein Helga erzählte von all den schönen Dingen, die sie in ihrer Heimat gesehen hatte. "Und wenn es regnet, freut sich niemand mehr über das schöne Wetter. Und das nur wegen einer bösen Wolke. So will ich nicht sein!" Klein Helga zog ein schmollendes Gesicht.

Esmira schob sich ganz dicht an klein Helga heran, legte ihren großen Wolkenarm über klein Helgas schmächtige Schultern, die durch ihr Weinen sehr schmal geworden waren. Esmira schmiegte ihre Wange an klein Helgas Wange und sagte: "Mein liebes Kind! Hast Du dort unten die armen Menschen gesehen? Sehen die fröhlich aus?"

Klein Helga runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. "Nein, fröhlich sehen die nicht aus."

"Siehst Du! Obwohl es hier doch seit über zwei Jahren jeden Tag schön und warm ist. Aber das ist keine Freude für die Menschen. Denn sie brauchen Wasser, damit sie und ihre Tiere etwas zu trinken haben und damit die Pflanzen wachsen können. Sieh sie dir an. Wie glücklich sie darüber sind, dass Du über ihnen geweint hast."

Klein Helga sah nach unten. Tatsächlich: Die Menschen waren aufgestanden und liefen bis zur der Stelle, über der Helga geweint hatte. Die Menschen hoben die Arme und blickten zu Klein Helga hoch.

"Diese Menschen haben so lange auf eine Wolke wie Dich gewartet." Esmira streichelte Klein Helga langsam und zärtlich den Kopf. Und Klein Helga begann wieder zu weinen. Viel leiser diesmal und nicht aus Kummer, sondern aus Glück und Stolz. Sie begriff, dass regnen nicht unbedingt böse sein musste, sondern für die Erde auch wichtig war.

Und sie verstand, dass es für das Land ihrer Heimat ein Segen war, dass es dort so viel regnete.

Den Menschen unter ihr hatte sie mit den wenigen Tränen, die sie geweint hatte, das größte Glück seit langer Zeit beschert. Vor Helga weinte weiter und sie gab sich dabei Mühe, besonders große Tränen zu weinen, um dem Land unter ihr noch mehr Wasser zu schenken.

"Nun ist es gut, Helga. Komm, ich bringe Dich zurück zu Deinen Eltern."

Esmira gab Helga einen Kuss und nahm Klein Helgas Hand. Klein Helga hörte mit dem Weinen auf und während Esmira sie an der Hand weg zog, blickte sie zurück zu den Menschen. Die tanzten nun auf der nassen Erde.

Klein Helga und Esmira flogen in Richtung des großen Gebirges, über die hohen Berge hinweg, hin zu dem saftigen grünen Land, wo Helgas Heimat war.

"Was für eine Wolke bist Du eigentlich?" fragte Klein Helga unterwegs.

"Ich bin eine Wüstenwolke."

"Regnest Du auch?" wolle Klein Helga wissen.

"Ach, weißt Du Helga, ich bin sehr alt. Ich kann dem Land kaum mehr Schatten spenden. Regnen kann ich schon lange nicht mehr. Aber ich war einmal eine große, hohe und weite Wolke und ich schenkte dem Land über dem ich lebe viel Wasser. Aber das ist lange her."

"Ich möchte so werden, wie Du, Esmira. ich werde ganz riesig groß und dann ziehe ich zu der Wüste und werde dort alt."

Esmira lächelte.

"Wir sind gleich da. Ich verabschiede mich jetzt von Dir. Ich wünsche Dir, dass wahr wird, was Du Dir vornimmst und dass Du viel Glück über die Wüste bringst." Sie gab klein Helga einen Kuss auf die Wange. Da erblickte Klein Helga ihren Vater und flitzte los.

"Vater! Da bin ich wieder! Ich muss Dir was Wichtiges erzählen." Klein Helgas Vater, der sich schnell wieder beruhigt und dann begonnen hatte, sich Sorgen um seine Tochter zu machen, war inzwischen vor Kummer deutlich in sich zusammen gefallen. Als er Klein Helga sah, stürzte er mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Die beiden fielen sich in die Arme und umarmten sich lange, lange Zeit. Dann begann Klein Helga zu erzählen, was sie erlebt hatte. Zum Schluss ihrer Erzählung versprach sie ihrem Vater kräftig zu wachsen.

Und Klein Helga wuchs. Sie wuchs lange, sehr lange Zeit. Sie wurde so groß, wie sie nur konnte. Und schließlich war sie sehr hoch, sehr lang und sehr breit war und erstreckte sich über das ganze Land. Ihre Eltern waren sehr stolz auf sie. Und schließlich zog sie fort.

Fort, in das Land von Esmira.